Komisch“, dachte Gaby, als sie die Augen öffnete. „Ich bin doch gerade erst eingeschlafen. Warum bin ich jetzt schon wieder wach? Und vor allem: WO BIN ICH?!“ Wie immer hatte ihre Mutter sie ins Bett gebracht und liebevoll zugedeckt. Und wie immer hatte Gaby noch mit der Taschenlampe unter der Decke ein wenig gelesen. Sie liebte es zu lesen. Auch wenn sie noch zur Volksschule ging, hatte sie schon mehr Bücher gelesen als so mancher Erwachsene. Mit jedem Wort, das sie in sich aufnahm, öffnete sich vor ihrem inneren Auge eine Welt und immer öfter entstanden in dieser Welt neue Geschichten und Gedichte, die sie niederschrieb, aber niemandem außer ihrem geliebten Opa zeigte.
Sie sah sich um. Nirgendwo war ein Mensch zu entdecken. Sie saß inmitten einer duftenden Blumenwiese, die Sonne schien und ein wunderschöner Apfelbaum spendete ihr Schatten. Moment! Ein Apfelbaum?! Verwundert nahm Gaby wahr, dass er gar keine Äpfel trug. Er war über und über voll mit Buchstaben. Roten und gelben, glänzenden und matten, runden und eckigen – lauter Buchstaben. Vorsichtig pflückte sie ein O und biss hinein. Es war saftig und süß und schmeckte nach Orangen. „Ooooo – wie schön“, dachte sie und sah sich weiter um, bis sie plötzlich einen schrecklichen Lärm hörte. Welch ein Getöse! Eine Gruppe von – ja, was waren sie eigentlich? Sie sahen aus wie putzige kleine Lebewesen, aber auch wie Buchstaben auf Füßen. Eine ganze Gruppe kam auf sie zu, es waren mindestens 26 verschiedene, die sie erkennen konnte. Ganz vorne an der Spitze liefen fünf lustige Gesellen. Der eine lang und dünn wie ein Strich, der andere ganz rund, einer sah ein wenig aus wie ein Dach mit einem Querbalken und dann gab es noch das Hufeisen und den komischen Jungen, der um Hals, Taille und Knöchel Bänder geschlungen hatte, die der Wind immer waagrecht zur Seite wehte. Aber es ging doch gar kein Wind????
Von diesen Anführern ging auf jeden Fall der meiste Lärm aus. Während die anderen nur leise murmelten, waren die Fünf nicht zu überhören.
„Wer seid ihr?“, fragte Gaby überrascht. „Wir sind die Laute“, kam die Antwort von dem großen Dünnen. Das sind Anton, Ernst, Otto und Ulrich, mein Name ist Ingolf, wir sind die Selbst-Laute, das da hinten ist unsere Verwandtschaft, die Mit-Laute. Sie sind nicht so wichtig wie wir, darum stelle ich sie dir nicht alle einzeln vor.“ Gemurmel kam unter den kleinen Mit-Lauten auf. Teils zustimmend, teils ein wenig empört, aber doch deutlich leiser, als man es bei ihren großen Kollegen erwartet hätte.
Gaby war verblüfft. Seit sie lesen und schreiben gelernt hatte, waren die Buchstaben ihre besten Freunde gewesen. Doch jetzt wirkten sie beinahe ein wenig bedrohlich auf sie. Sie merkte, dass das Gemurmel der Mit-Laute wieder anschwoll und die Selbst-Laute sich aufrichteten und wieder anfingen, immer lauter zu summen. AAAAAAAAAAAAAA, EEEEEEEEEEEEE, IIIIIIIIIIIIIIIII, OOOOOOOOOO, UUUUUUU … immer und immer lauter …
Gaby hielt sich die Ohren zu. „Hört auf!“, schrie sie. „Das tut ja weh!“
„Wir müssen das tun“, sagte Ingolf, der sich offensichtlich für den Anführer der ganzen Truppe hielt. „Wir sterben sonst aus! Wir leben davon, dass die Menschen uns wahrnehmen. Doch das wird leider immer weniger. Wenn sie uns nicht brauchen und nutzen, haben wir keinen Job mehr und auch keine Existenzberechtigung.“ Jetzt meldete sich auch Anton zu Wort. „Früher, ja früher, da hatten wir noch ein tolles Leben. Die Menschen verwendeten uns, um Wissen zu vermitteln. Sie haben uns geliebt. Sie setzten uns auf so viele Arten ein. Um zu kommunizieren, sich zu entspannen, Geschichten zu erzählen und vor allem zu LESEN, um ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben, sich freundliche Botschaften zukommen zu lassen. Wir und unsere Familien, die Worte und die Sätze, wir wohnten in wundervollen Büchern. Viele von ihnen hatten reich verzierte, duftende Ledereinbände und manchmal war der Schnitt sogar vergoldet! Ich war der erste in einer langen Reihe von Almanachen. Eine Aufgabe, die mich sehr stolz gemacht hat! Heute weiß kaum jemand, was das ist!“
„Was soll denn da ich erst sagen?!“ empörte sich Ernst. „Früher waren die Menschen stolz, Enzyklopädien zu besitzen. Wenn du sie heute danach fragst, bekommst du höchstens die Antwort „Hey spinnst du? Guckst du Guuuugl – oder wie das heißt.“
„Ja,“ empörte sich nun auch Ulrich, der bis dahin ganz ruhig geblieben war. „Wir werden von den Menschen einfach nicht mehr so geschätzt. Viele können nicht mehr wirklich mit uns umgehen. Schmeißen uns einfach wild durcheinander, wie es ihnen gerade passt, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, was und wie es sich gehört. Lächerlich! Meist kommt totaler Unsinn heraus und manche sagen dann auch noch „egal, liest ja eh keiner“. Frechheit! Wo wären sie denn ohne uns? Sie würden immer noch Strichmännchen auf Höhlenwände kratzen!“
„Vielleicht wäre das manchmal sogar besser“, mischte sich Otto ein und seine runden Wangen sahen vor Trauer und Bestürzung ganz eingefallen aus. „So macht das Leben einfach keinen Spaß mehr. Früher haben wir eng mit unseren Nachbarn, den Bildern, zusammengearbeitet. Miteinander waren wir stark! Wir haben uns gegenseitig geschätzt und wunderbar ergänzt. Heute gibt es viele Menschen, die ihnen einreden, sie wären wichtiger als wir. Dabei ist das doch bloß Faulheit! Um uns zu verstehen, muss man halt ein wenig mehr Zeit und Wissen investieren – und dazu haben die meisten keine Lust mehr.“ Bei diesen Worten fielen seine Schultern so herab, dass Otto nun nicht mehr rund und gesund aussah, sondern eine richtige Delle hatte und eher einer Birne glich.
„Bleibt ruhig“, mahnte Ernst. Er schien der Besonnenste der Fünf zu sein. „Unsere Nachbarn und wir haben immer in friedlicher und produktiver Koexistenz gelebt und gut zusammengearbeitet. Wir werden uns jetzt nicht in Neid und Missgunst treiben lassen und unsere Grenzen schließen. Kampf ist nie eine Lösung, Ein gesunder Wettbewerb macht Spaß, ja. Aber wenn die Teilnehmer anfangen, sich selbst als Einzelne zu wichtig zu nehmen und darüber das Miteinander vergessen, ist der nächste Krieg nicht weit. Und was das heißt, haben wir doch oft genug erzählen müssen.“
Von den Mit-Lauten kam zustimmendes Gemurmel. Gaby kniete sich nieder und nahm den zerknautschten Otto in die Arme. „Ich verspreche euch, ich werde euch nie im Stich lassen. Mein ganzes Leben lang nicht! Ich werde euch hüten und schätzen und immer versuchen, euch in die richtige Reihenfolge zu bringen, so dass ihr klingen könnt wie eine wundervolle Melodie. Ich werde nicht aufhören, den Menschen zu erzählen, wie wichtig es ist, mit euch respektvoll umzugehen. Auch wenn es vielleicht manchmal schwer wird, weil manche es nicht verstehen werden oder wollen.“
Sie blickte auf Otto, der sich bei ihren Worten langsam wieder aufgerichtet und entknittert hatte und nun in seiner ganzen runden Pracht vor ihr stand. „Oooo wie schön“, sagte er und seine roten Bäckchen leuchteten vor Freude. „Wir sind dir zu Dank verpflichtet“, sagte Ernst ganz ernst, doch Gaby lachte nur. „Es ist mir eine Freude!“ Ingolf beugte sich ihr nieder und küsste sie auf beide Wangen. „Wir danken dir und werden nachher gleich zu unseren Nachbarn, den Bildern gehen, und ihnen von dir erzählen.“ „Bitte sag ihnen, dass ihr untrennbar zusammengehört“, antwortete Gaby. „Aus euch werden Worte und aus Worten werden Bilder. Und Bilder können ganze Geschichten erzählen. So ist das einfach. Freut euch über eure Fähigkeiten und arbeitet lieber zusammen, das ist so viel besser als Futterneid und Konkurrenzkampf!“ Anton hatte Tränen in seinen Augen, als er Gaby umarmte und sagte: „ALLES, was mit uns zu tun hat, wird dich dein Leben lang begleiten. Wir vertrauen dir.“ Und Ulrich streichelte zum Abschied einfach nur ihre Wangen und flüsterte: „Wir werden immer bei dir sein.“
Gaby sah sich die bunte Truppe noch einmal an und prägte sich das Bild gut ein. Nichts war nun mehr laut oder unstimmig. Im Gegenteil. Die Selbst- und die Mit-Laute tanzten miteinander, bildeten immer neue Worte und riefen ihre Verwandtschaft, die Satz-Zeichen dazu. Gaby sah wie Sätze entstanden, kurz, prägnant und leicht zu verstehen. Sie sah aber auch längere Konstruktionen, die wie Musik ineinanderflossen, Gedichte und Geschichten, die ihre Leser verzückten und ihnen die Zeit verschönerten. Vor ihren Augen entstand Information und Kunst, Notwendiges und Gewünschtes, Kurzes und Knappes, Langes und Melodiöses …
ALLES, alles war da im Reich der Worte. Sie schloss ihre Augen und schwor sich, das nie zu vergessen.
Der Kuss ihrer Mutter weckte sie. Gaby kuschelte kurz das Gesicht in ihre Hände, die wie immer ein wenig nach Wärme und Creme rochen. „Na kleine Prinzessin, warst du wieder in deinem Reich der Worte? Hast du wieder von deinen Freunden, den Buchstaben, Wörtern und Satzzeichen geträumt?“ „Ja Mami“, antwortete sie. Und freute sich schon auf die nächste Geschichte, die ihre Freunde erzählen würden.
FORTSETZUNG FOLGT ?
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